Neandertaler | Bildquelle: pixabay.com

Tübingen / Israel:

Chopper-Tools waren Knochenbrecher - Tübinger Wissenschaftlerin löst Rätsel um frühe Steinwerkzeuge

Stand: 02.09.22 18:58 Uhr

Von Stefan Klarner - Wissenschaftsredaktion | Wissenschaftler haben das jahrzehntelange Rätsel um den Verwendungszweck früher Steinwerkzeuge gelöst: Die sogenannten Chopper-Tools wurden verwendet, um Knochen zu öffnen, um an das nahrhafte Knochenmark zu gelangen. An den Forschungen maßgeblich beteiligt war Dr. Flavia Venditti von der Universität Tübingen.

Jahrzehntelanges Ringen um die Funktion der zwei Millionen Jahre alten Steinwerkzeuge

Zwei Millionen Jahre lang benutzten unsere Vorfahren ganz spezielle Steinwerkzeuge: Größere Kiesel, deren eine Seite bearbeitet war: Chopper-Tools; der englische Begriff lautet "Chopping-Tools").

Jahrzehnte lang stritten sich namhafte Archäologen und Urgeschichtler über den Verwendungszweck dieser halbseitig bearbeiteten Kieselsteine:

Die einen sahen darin ein Werkzeug, deren unbearbeitete Hälfte man in die Hand nahm, um mit der zugeschlagenen Hälfte zu arbeiten. Die anderen sahen darin einen übriggebliebenen Rest, von dem einzelne Klingen als Werkzeuge abgeschlagen worden waren.

 

Bis zu 2 Millionen Jahre alt: Chopper-Tools sind frühe Steinwerkzeuge unserer VorfahrenBis zu 2 Millionen Jahre alt: Chopper-Tools sind frühe Steinwerkzeuge unserer Vorfahren

 

Jetzt hat ein Team von Wissenschaftlern das Rätsel geklärt. Das Paper dazu wurde jetzt in der renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschrift PLOS ONE veröffentlicht.

An einigen Stücken hatten sich über die Jahrmillionen Materialreste erhalten - es war Knochenmaterial, das offenbar bei der Verwendung der Chopper-Steinwerkzeuge an diesen haften blieb. Experimente mit Knochen bestätigte den Wissenschaftlern dann auch, dass man mit den Steinwerkzeugen Knochen öffnen konnte - um an das nahrhafte Knochenmark im Innern zu kommen.

 

Frühes Steinwerkzeug: Mit dem Chopper Tool gelangten unsere Vorfahren ans KnochenmarkFrühes Steinwerkzeug: Mit dem Chopper Tool gelangten unsere Vorfahren ans Knochenmark

 

Knochenmark im Hirschbein: Der Vorratsschrank unserer Vorfahren

Welchen Wert das in den Knochen enthaltene Knochenmark für die damaligen Vorfahren des heutigen Menschen hatte, konnten israelische Wissenschaftler bereits vor einigen Monaten nachweisen. In einer Höhle fanden sie aufgeschlagene Tierknochen, deren Schnittspuren darauf hinwiesen, dass diese zunächst mit dem daran haftendem Fleisch und Haut über Wochen aufbewahrt wurden, bevor die Knochen aufgebrochen wurden, um das darin enthaltene Knochenmark zu essen:

Die Wissenschaftler hatten offenbar den Vorratsschrank unserer Vorfahren entdeckt: So konnten unsere Vorfahren Nahrungsmittel über einen längeren Zeitraum aufbewahren, um damit Zeiten mit knappem Nahrungsangebot zu überstehen. Unklar war, ob nur die Bewohner dieser Höhle dieses Art der Nahrungsgewinnung nutzen.  RTF.1, ARCHÄO.NEWS und PROMETHEUS berichteten. 

Jetzt konnten Wissenschaftler nachweisen, dass auch mit den weit verbreiteten Chopping Tools (so heißt diese Sorte von Steinwerkzeuge auf Englisch)  Knochen der Länge nach geknackt wurden, um an das nahrhafte Knochenmark zu gelangen. Diese Art der Steinwerkzeuge wurde von unseren Vorfahren über Jahrhunderttausende genutzt.

Tübingen, Israel, Rom - Ein internationales Forscher-Team

Gegenstand der neuen Untersuchung waren 53 Chopper-Tools, die in Revadim gefunden worden waren, ein Ort an der Küstenebene, 40 Kilometer südostlich von Tel Aviv.

Die jetzt in PLOS One veröffentlichte Studie wurde von Dr. Flavia Venditti (Universität Tübingen), Professor Ran Barkai und Dr. Aviad Agam vom  Sonia and Marco Nadler Institute of Archaeology an der TAU Universität Tel Aviv durchgeführt; in Zusammenarbeit mit dem "Laboratory of Technological and Functional Analyses of Prehistoric Artefacts"  und Wissenschaftlern aus Sapienza, Universität von Rom. 

Professor Ran Barkai teilte in einer Presseinfo mit [Übersetzung durch die Redaktion]: "Jahrelang haben wir Steinwerkzeuge von prähistorischen Fundstellen in Israel studiert, um deren Funktionen zu verstehen. Eine wichtige Fundstelle von Steinwerkzeugen ist Revadim, eine Freilandfundstelle, die auf 500.000 bis 300.000 Jahre vor unserer Zeitrechung zu datieren ist. Sie ist reich an bemerkenswert gut erhaltenen Funden. Über die Jahre haben wir herausgefunden, dass Revadim eine hoch bevorzugte Stelle war, die immer und immer wieder von Menschen wiederbesiedelt wurde- am wahrscheinlichsten durch den späten Homo Erectus. An der Stelle wurden Knochen von vielen Arten von Jagdwild gefunden, einschließlich Elefanten, Vieh, Hirsche, Gazellen und anderen."

"Mit den Menschen verbreiteten sich die Chopping Tools so gut wie überall hin"

Die vorgeschichtlichen Bewohner von Revadim hatten den Forschern zufolge eine effektives Mehrzwerk- Werkzeug-Arsenal entwickelt – nicht unähnlich dem Werkzeug-Arsenal heutiger Händler [tradesmen]. Nachdem man die Funktionen einiger Steinwerkzeuge herausgefunden hatte, die man an der Stelle gefunden hatte, konzentrierten sich die Forscher auf chopping tools - Flint-Kiesel [flint pebbles] mit einem beschlagenen, scharfen und massivem Ende.

"Das Chopping Tool wurde vor 2,6 Millionen Jahren in Afrika eingeführt", erläutert Professor Barkai: "Anschließend hat es sich zusammen mit den Menschen überall dorthin verbreitet, wo diese in den nächsten 2 Millionen Jahren hinkamen. Große Mengen dieser Werkzeuge hat man so ziemlich an jedem prähistorischen Ort in der Alten Welt gefunden - in Afrika, Europa, dem Mittleren Osten und selbst in China - ein Beleg für ihre große Bedeutung." "Wie auch immer", sinniert Barkai: "Bis jetzt sind sie nie mittels methodischen Labortest daraufhin untersucht worden, für was sie tatsächlich genutzt worden sind."

Ungewöhnliche Anhaftungen unter dem Mikroskop: Flavia Venditti brachte die Forschungen ins Rollen

Dr. Flavia Venditti von der Universität Tübingen hat die neuen Forschungen an den Chopper-Tools maßgeblich ins Rollen gebracht: Venditti hielt sich damals im Rahmen ihrer Postdoc-Tätigkeit in Israel auf. Dort nahm sie, wie sie in einem Telefongespräch mit RTF.1 Regionalfernsehen, ARCHÄO.NEWS und Prometheus Wissenschaftsfernsehen berichtet, einige Chopper-Tools unter dem Mikroskop näher in Augenschein.

Dabei fielen Flavia Venditti Anhaftungen an den Steinwerkzeugen auf, die sie näher untersuchte. Bei den Anhaftungen handelte es sich um Reste der Materialien, die mit den Chopper-Steinwerkzeugen bearbeitet worden waren. Das war die Initialzündung zu einer Forschungsarbeit, die in der Folge zu bahnbrechenden Erkenntnissen führen sollte.

 

Chopper Tools: Diese Sorte Steinwerkzeuge wurden jahrhunderttausende lang benutztChopper Tools: Diese Sorte Steinwerkzeuge wurden jahrhunderttausende lang benutzt

 

Im Laufe der weiteren Untersuchungen konnte Venditti die Anhaftungen als Knochenmaterial identifizieren. Damit war zugleich die jahrzehntelang offene und in Fachkreisen höchst kontrovers diskutierte Frage entschieden, ob es sich bei den Chopper-Steinen um bei der Steinwerkzeugherstellung übriggebliebene Reste ("Kerne") oder um die hergestellten Werkzeuge selbst handelt: Es waren Werkzeuge zur Öffnung von Tierknochen, um an das nahrhafte Knochenmark zu gelangen - eine bahnbrechende Entdeckung.

Die Wissenschaftlerin arbeitet derzeit als Wissenschaftliche Assistentin am Department of Early Prehistory and Quaternary Ecology der University of Tuebingen. Venditti forscht in den Bereichen Archäologie, Evolution des Menschen, Menschliches Verhalten und Experimenteller Archäologie.

Preisträgerin des renommierten Tübinger Förderpreises

Im Jahr 2020 hatte Venditti für andere Forschungen schon den renommierten Tübinger Förderpreis für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie erhalten. Die Italienerin wurde für ihre Dissertation „The recycling phenomenon during the Lower Palaeolithic: the case study of Qesem Cave (Israel)" ausgezeichnet. Darin hatte sie die gezielte Herstellung kleiner Schneidgeräte aus unbrauchbar gewordenen größeren Geräten und deren vielfältige Verwendung untersucht: Recycling schon vor 400.000 Jahren.

Flavia Venditti studierte an der Sapienza Universität in Rom Archäologie. Anschließend spezialisierte sie sich mit einem Master Course auf das Thema „Kulturerbe". Dort schloss sie ihre Promotion mit Auszeichnung ab. Danach arbeitete Venditti TAU-Universität von Tel Aviv in Israel mit Professor Ran Barkai an der Weiterführung ihres Doktorarbeits-Themas an Werkzeugen der noch älteren Freilandfundstelle Revadim. Dies führte dann zu ihrer jüngsten Entdeckung.

In den nächsten Jahren will Dr. Venditti den Focus ihrer wissenschaftlichen Arbeit weiterhin auf dieses Gebiet richten. Ein Gebiet, das, wie die Wissenschaftlerin gegenüber RTF.1, ARCHÄO.NEWS und PROMETHEUS betonte, bisher noch viel zu wenig im Focus der Wissenschaft stehe.

Erstveröffentlichung: 22.01.2021-15:07

Jüngste Aktualisierung: 27.01.2021-21:15

Original-Arbeit:

An integrated study discloses chopping tools use from Late Acheulean Revadim (Israel) / Flavia Venditti ,Aviad Agam,Jacopo Tirillò,Stella Nunziante-Cesaro,Ran Barkai / Published: January 19, 2021. Link: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0245595

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