Dr. Michael Winterhoff | Bildquelle:

Eningen:

Kinder nach Corona - RTF.1 mit Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff im Gespräch

Stand: 04.07.21 14:16 Uhr

Der bekannte Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff besuchte zusammen mit dem Bundestagsabgeordneten der FDP, Pascal Kober, unsere Redaktion. Gesprochen haben wir mit dem Experten vor allem über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche und was Eltern tun können, um zu helfen.


Die niedrigen Inzidenz-Zahlen lassen auch bei uns wieder Redaktionsbesuche zu - empfangen durften wir diese Woche den Bundestagsabgeordneten der FDP, Pascal Kober, und den Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff.

Bevor sie zu einem Live-Podium nach Tübingen mussten, hatten wir die Chance, mit beiden zu sprechen. Und zwar zum Thema: Kinder nach Corona: Was zählt jetzt?

 Pascal Kober hat selbst während des Lockdowns viele Rückmeldungen von Familien bekommen. Viele Eltern seien mit der Situation überfordert gewesen, erzählt er: "Auf der einen Seite Homeschooling gewährleisten zu müssen, auf der anderen Seite die volle Berufstätigkeit gegenüber dem Arbeitgeber gewährleisten zu müssen. Das hat sehr viele gestresst."

Immer wieder war auch in den Medien zu hören, dass Kinder und Jugendliche mehr psychologische Unterstützung brauchen. Für Dr. Winterhoff erst der Anfang. Er glaubt, die Welle der Probleme kommt erst noch: "Wenn die Schule wieder richtig losgeht, dann wird auffallen, dass diesen Kindern sehr viel fehlt."

Allerdings, so Winterhoff, hätte die Corona-Pandemie auch hier nur verstärkt, was sowieso schon vorhanden war. In Deutschland hätten heute schon über 50% der Heranwachsenden Probleme, in den Beruf einzusteigen. So fehle es Praktikanten und Auszubildenden an Arbeitshaltung und Sinn für Pünktlichkeit. Auch das Erkennen von Strukturen und Abläufen falle ihnen schwer. Vielen sei das Handy wichtiger als der Kunde, der vor ihnen stehe, so Dr. Winterhoff.

Bis 1995 gab es diese Probleme nicht, so Winterhoff weiter. Jahrzehntelang hätten Eltern automatisch gespürt, was das Kind braucht. Doch mit Einzug der Digitalisierung sei man als Erwachsener da ebenfalls reingerauscht und mittlerweile so gestresst, dass man eigentlich nur noch auf äußere Reize reagiere, aber das Gespür für sich selbst und andere immer mehr verliere. Wenn man heute in die Stadt gehe, sehe man gehetzte, genervte, gereizte, depressive oder im Handy versunkene Gesichter. "Wenn Sie dann einen haben, der strahlt und entspannt ist, denken Sie schon fast, der hat Drogen genommen." Es sei eine dramatische Veränderung des Erwachsenen, was jetzt durch die Pandemie noch mal verstärkt worden sei. Man habe nicht in Ruhe überlegt, wo Digitalisierung Sinn mache und wo nicht.

Mehr als ausreichend Tablets oder gutes WLAN brauchen Kinder und Jugendliche heutzutage Beziehungen und echte Bezugspersonen. Ebenso wie Strukturen und klare Abläufe. Gerade diese hätten in der Corona-Zeit noch mehr als sonst gefehlt.

Doch wie können die Erwachsenen den Sprung aus dem Hamsterrad schaffen? Wie können sie in sich ruhend für ihre Kinder da sein?

Dr. Winterhoff hat da einen ganz klaren Tipp: "Lassen Sie sich auf einen längeren Waldspaziergang ein." 4 bis 5 Stunden, ohne Handy, nicht Joggen, nicht Fahrradfahren, alleine, keinen Hund mitnehmen - und nach zwei bis drei Stunden geschieht dann etwas, was sich die meisten nicht vorstellen können: man erreiche ein anderes Plateau - ein Plateau der Ruhe.

Neben dieser Problematik wirke sich aber auch das Bildungssystem in Deutschland negativ auf die Kinder aus. Kinder würden Lehrer und keine Lernbegleiter brauchen und auch ein Kindergarten sollte Strukturen und klare Abläufe vermitteln und die Kinder nicht nach Lust und Laune durch Tobe- und Bastelräume fliegen lassen, so der Psychiater. Nur so könne man die jungen Heranwachsenden am Ende auf das Berufsleben vorbereiten.

Auch die FDP in Baden-Württemberg setzt sich für andere Wege im Bildungssystem ein, befürwortet beispielsweise eine Rückkehr zur Grundschulempfehlung: "Ich finde, man sollte achtsam darauf hören, was Experten wie Dr. Winterhoff uns als Politikern auch sagen und Schlussfolgerungen daraus ziehen. Die Beobachtungen, auf die Dr. Winterhoff seine Argumentation ja gründet, sind vielen auch aus eigener Beobachtung schlüssig und ich finde, da sollten wir in der Bildungspolitik nochmal ganz grundsätzlich drüber nachdenken."

Für die Zeit nach Corona empfiehlt Dr. Winterhoff, nicht sofort wieder in den normalen Unterricht einzusteigen, sondern den Kinder- und Jugendlichen erst einmal die Chance zu geben, sich wieder an Strukturen und Abläufe zu gewöhnen und sich am Gegenüber zu orientieren.

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