Christbaummarkt  | Bildquelle: RTF.1

Deutschland:

Satire: Christbaum in 2D - Eine Kurzgeschichte über die Kunst, brettartig zusammengepresste Weihnachtsbäume zu verkaufen

Stand: 19.11.21 14:22 Uhr

Das Schild am Supermarkt war verlockend: "Weihnachtsbaum 12 Euro". Meine Frau schaute auf das Schild, und dann auf mich: "Das ist nur halb soviel wie letztes Jahr. Lass uns da nach einem Christbaum schauen!" Gesagt, getan: Wir parkten vor dem Supermarkt und stiegen aus. Der Tannenbaum-Verkäufer hatte inmitten des riesigen Parkplatzes ein Areal mit metallenen Absperrgittern abgetrennt.

Entlang des Gitters war auf der einen Seite eine Reihe durchaus passabler Weihnachtsbäume aufgestellt. Und auf der anderen Seite des Gitters stand ein gewaltiger Rollwagen voller gestapelter Tannenbäume. Kennen Sie gestapelte Tannenbäume?

Ein Wagen voller prächtiger, runder Tannenbäume, jeder durch ein Netz nur mühsam daran gehindert, sich zu entfalten? Und kaum, dass der Tannenbaumverkäufer einen der Bäume vom LKW holt, und sein Messer ansetzt, drückt der Tannenbaum seine Äste kraftvoll nach allen Seiten auseinander, und entfaltet sich zu einer wahren grünen Pracht.

So  k a n n t e  ich es zumindest. Bisher! Denn hier war der Fall völlig anders gelagert:

Die Tannenbäume lagen waagrecht auf einer großen Pritsche, so etwa dreißig, vierzig Stück übereinander - und zwar flach wie ein Brett! Ja! Flach wie ein Brett! Meine Frau und ich schauten uns an. Und dann wieder die brettartig flachen Tannenbäume.

Vorsichtshalber schaute ich mich nach allen Seiten um, denn für einige Millisekunden befürchtete ich einen Weihnachtsspaß von "Vorsicht Kamera" oder "Verstehen Sie Spaß". Aber so sehr ich auch schaute, es war keine Kamera und keine verdächtigen, technischen Gerätschaften zu entdecken.

Der Weihnachtsbaumverkäufer zog für den Käufer vor uns einen der zweidimensionalen Tannenbäume vom Wagen. Verblüfft sah ich, dass der zusammengepresste Tannenbaum kaum dicker war als ein Bügelbrett. Mit Schwung stellte der Verkäufer den Baum vor dem Käufer auf den Boden. Mit geübter Armbewegung durchtrennte er mit einem Messer das Netz. Und der Weihnachtsbaum entfaltete sich - nicht.

Er blieb flach, So flach wie ein Brett. Und unwillkürlich sah ich in meinen Gedanken eine große Dampfwalze vor mir, die im Weihnachtsbaumwald brummend und tuckernd über jeden frisch geschlagenen Baum drüber fuhr, um ihn in diesen jämmerlichen, zweidimensionalen Zustand zu versetzen.

Indes brummte der Weihnachtsbaumverkäufer zufrieden vor sich hin, gönnte dem Kunden einen kurzen Blick auf den herrlichen, zweidimensionalen Anblick seines Prachtexemplars, drehte das brettartige, grüne Gebilde einmal um die eigene Achse, hob es dann hoch, und ließ den Stamm des Tannenbaums mit Schwung und krachend auf den Teerboden sausen. 

Durch den abrupten Aufschlag des Stammes auf den Parkplatzboden entfaltete sich der Tannenbaum mit einem mal zu einem dreidimensionalem Gebilde, in etwa so, wie das auch passiert, wenn man ein Kinderbilderbuch mit eingeklebten Klapp-Pop-Ups aufschlägt.

Zufrieden präsentierte der Weihnachtsbaumverkäufer die entfaltete Tanne seinem Kunden. Der nickte, zahlte die zwölf Euro, bekam seinen Baum wieder in ein Netz verpackt (wobei der Baum erstaunlicherweise seine dreidimensional entfaltete Form behielt), und ging zufrieden weg.

Nun waren wir an der Reihe. Wieder war es faszinierend, wie der Verkäufer auch für uns ein bügelbrettartiges Tannenbäumchen vom Wagen zog, vom Netz befreite, kunstvoll einmal um den eigenen Stamm drehte, um diesen dann mit elegantem Schwung in die Luft zu heben und auf den Boden zu stoßen.

Auch dieser Tannenbaum entfaltete binnen Millisekunden seine Äste zu einer dreidimensionalen Struktur, und der Verkäufer brummte uns zufrieden zu.

Meine Frau warf einen Blick auf die untersten Äste: "Etwas dürr, der Baum da!" "Nein, nein" sagte der Verkäufer. "Hatte nur wenig Licht beim Wachsen. Macht nichts!" Im gleichen Moment rupfte er mit der freien Hand den dürren Ast ab und ließ ihn mit einem eleganten Wurf hinter sich verschwinden.

Ich duckte mich geschwind, und konnte so einem Zusammenstoß mit dem fliegenden Ast entgehen. "Hmm", sagte meine Frau  "das hörte sich ziemlich trocken an, als Sie den Ast da abgemacht haben! Wie lang hält der denn?" "Ganz frisch!" antwortete der Verkäufer. Aber meine Frau blieb skeptisch: "Der muss bis in den Januar hinein halten!"

Das stieß beim Verkäufer auf Unverständnis: "Bis Januar? Was brauchen Sie den Baum bis Januar? Hält bis 24. Dezember. Dann ist Schluss!  Dann Baum weg und viel Platz für Geschenke!"

Meine Frau blieb sprachlos.

Ich sagte: "Jetzt würde ich gerne noch ein zweites Exemplar sehen".

Nun war der Verkäufer sprachlos: "Ein - zweites - Exemplar?" Seine Kinnlade fiel nach unten: "Warum? Wozu?"

"Nun, gewöhnlich schaue ich mir ein paar Bäume an, und suche mir dann den schönsten raus!"

Jetzt verlor der Christbaumverkäufer vollends die Fassung: "Ein - paar -Bäume?" Sein Gesicht bewölkte sich, und er schüttelte grimmig den Kopf: "Kommt nicht in Frage!"

"Kommt nicht in Frage?" wiederholte ich fassungslos und fast stimmlos seine Antwort.

"Jo! Kommt nicht in Frage!"

Jetzt schaltete sich meine Frau wieder ein: "Ja aber, warum wollen Sie uns nicht mehrere Bäume zeigen?"

Der Verkäufer kratzte sich an seinem Kopf: "Öhh ... ja, wo kämen wir denn da hin, wenn ich für jeden Kunden ein paar Bäume auspacken müsste!" Er sah sich in seinem abgegitterten Terrain um: "Hätte doch gar keinen Platz! Wo sollte ich die Bäume denn hinstellen?"

Ich schaute mich um und dachte, dass auf dem Verkaufsgelände gut 20, 30 Christbäume mit prächtig ausgebreiteten, dreidimensionalen Ästen, Platz finden würden.

Meine Frau sagte: "Ich möchte jedenfalls noch weitere Christbäume sehen!" Der Verkäufer zögerte. "Mindestens einen!" sagte meine Frau und legt eine sanfte Schärfe in ihre Stimme.

Widerwillig trottete der Verkäufer zum Wagen und holte einigermaßen lustlos ein weiteres Bügelbrett-Exemplar vom Stapel herunter. Wieder die schon bekannten Armbewegungen: Der Baum schoss in die Luft, wurde unmittelbar darauf auf den Boden gestoßen, und entfaltete sich.

"Prächtig!" sagte der Verkäufer zufrieden, ohne einen Blick auf den Baum zu werfen: "Den kaufen!"

Meine Frau und ich schauten sprachlos auf den Baum: Dieser hatte sich zwar wie gewohnt entfaltet, aber nur in drei Himmelsrichtungen. Die uns zugewandte Seite war nämlich völlig kahl und ohne jede Äste!

Ich zeigte fassungslos auf den Baum: Der Verkäufer folge mit seinem Blick meinem Finger, erkannte das Problem, und ein zufriedenes Lächeln lief über sein Gesicht:

"Ah, kein Problem! Stellen Sie so!" Mit einer eleganten Bewegung drehte er den kahlen Teil nach hinten: "Stellen Sie in Ecke! Prima für Ecke! Kaufen?"

Meine Frau schüttelte den Kopf. "Noch einen!" sagte sie bestimmt.

Der Verkäufer schüttelte ebenfalls den Kopf: "Keinen mehr! Den kaufen! Gut für Ecke!" zufrieden schaute der Verkäufer uns an und nickte uns ermutigend zu.
"Aber Sie müssen Ihren Kunden doch Service bieten! Der Kunde ist doch König! Sonst verkaufen Sie doch keinen einzigen Baum!"
"Neiiin!" sagte der Verkäufer empört. "Verkaufe alles! Immer nur einen Baum!"
"Das glaube nicht nicht!" sagte meine Frau bestimmt.
"Doch, doch!" nickte der Verkäufer voller Inbrunst:
"Gestern kam ganze Palette voller krummer Bäume. Alle krumm! Unten am Stamm! Nicht einer gerade! Alle ganz schräg! Chef sagte zu mir: Die kriegen wir nicht verkauft! - Ich sagte: Doch, Chef! Krieg ich verkauft! Immer nur einen. Den kaufen! Solang nix verkauft, nix Neues!"
Der Verkäufer nickte uns zufrieden zu: "Und heute morgen - alle weg! Alle verkauft! Alle krumm verkauft!"
In Gedanken sah ich hundert weihnachtliche Wohnzimmer vor mir, in denen an Heiligabend der Christbaum schräg ins Wohnzimmer ragte, und unter dem Christbaumschmuck und flackernden Kerzen zitternd hin und her schwankte...
Dann hielt der Verkäufer uns mit ausgestrecktem Arm den Eck-Spezialbaum hin: "Und? Kaufen?"
Wortlos schüttelten wir beide gleichzeitig den Kopf.
Ich flüsterte meiner Frau zu: "Fahren wir zu unserem traditionellem Christbaumverkauf am Verkehrsübungsplatz!"
Beide dachten wir daran, wie sich der Verkehrsübungsplatz vor Weihnachten in einen halben Wald verwandelte, voller schöner, zur Auswahl aufrecht stehender Christbäume.
Meine Frau nickte: "Und wir wissen wenigstens, woher die Bäume kommen: Frisch geschlagen von der Schwäbischen Alb!"  
Während wir über  den Parkplatz zum Auto gingen, warfen wir einen Blick zurück zu unserem Verkäufer. Mit gekonnten Schwung präsentierte er den Eck-Spezial-Baum dem nächsten Kunden, der Wind wehte ein paar Wortfetzen zu uns herüber. "Nein .... Ecke ... Nur den ... keinen anderen .. kaufen ??".
Der Käufer gehorchte, zückte seine Geldbörse und zahlte gehorsam ....
Eine Kurzgeschichte von Stefan Klarner

Erstveröffentlichung: 22. Dezember 2014
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