„Damit die Wählerinnen und Wähler eine begründete Wahlentscheidung treffen können, sollten Parteien ihre Positionen zur Landespolitik klar und verständlich darstellen. Die Wahlprogramme sind dabei ein Mittel, um die eigenen Positionen darzulegen", sagt der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. Aber oft lasse die Verständlichkeit der Programme zu wünschen übrig.
Mit Hilfe einer Analyse-Software fahndet der Wissenschaftler mit seinem Team unter anderem nach überlangen Sätzen, Fachbegriffen und zusammengesetzten Wörtern. Anhand solcher Merkmale bilden sie den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex" (HIX). Er reicht von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich).
Das formal verständlichste Wahlprogramm in Baden-Württemberg liefert die SPD mit 11,0 Punkten auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex. Den letzten Platz belegt das Programm der FDP mit 5,1 Punkten. Im Schnitt erreichen die Wahlprogramme in Baden-Württemberg 8,5 Punkte. Damit liegen sie im bundesweiten Vergleich der 16 Bundesländer auf Platz 4.
Im Vergleich zu 2016 ist die Verständlichkeit der Wahlprogramme 2021 gestiegen: Die Werte der SPD und der Grünen in Baden-Württemberg sind um bis zu drei Punkte gestiegen. Am meisten an formaler Verständlichkeit eingebüßt hat in Baden-Württemberg das Wahlprogramm der CDU. Sie bewegt sich eher auf dem Verständlichkeitsniveau einer politikwissenschaftlichen Doktorarbeit.
„Die häufigsten Verstöße gegen Verständlichkeits-Regeln sind Fremdwörter und Fachwörter, zusammengesetzte Wörter und Nominalisierungen, Anglizismen sowie lange Sätze und Schachtelsätze", sagt Claudia Thoms, Verständlichkeits-Forscherin an der Universität Hohenheim. Verstehen alle Wählerinnen und Wähler in Baden-Württemberg den Inhalt, wenn die Grünen von „Ridepooling-Diensten" reden? Oder die CDU von „Brückenprofessuren", die AfD von „Strahlformungsantennen", die Linke von „Postwachstumsansätzen", die SPD von „Aufgabenverteilungswahrnehmung" oder die FDP von „Akzeleratoren"?
Solche Fachbegriffe sind für die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler genauso unverständlich wie die zahlreichen Anglizismen: „Diversitycheck" (Grüne), „Smart-Metering" (CDU), „Tenure-Track-Beschäftigungsmodelle" (Linke), „Funklochscreening" (FDP), „Beamforming-Antennen" (AfD) oder „Cyber-Valley-Regionen" (SPD). Die SPD in Baden-Württemberg sei diesbezüglich jedoch positiv aufgefallen: Wenn sie Fachbegriffe verwendet, erläutert sie diese oft in Form einer Sprechblase. Das mache die Lektüre auch für Laien einfacher.
Darüber hinaus erhöhen lange, zusammengesetzte Wörter nicht gerade die Lesbarkeit der Wahlprogramme: „Nahrungsergänzungsmittel-Hersteller" (Linke), „Risikoausgleichsrücklagen" (CDU), „Aufgabenverteilungswahrnehmung" (SPD).
In allen Wahlprogrammen finden sich Verstöße gegen Verständlichkeits-Regeln. „Neben den Fremdwörtern, Anglizismen und Fachbegriffen sind es auch die Bandwurmsätze, die die Wahlprogramme so unverständlich machen", sagt Claudia Thoms. „Wir haben in allen Wahlprogrammen solche Satz-Ungetüme mit teilweise mehr als 40 Wörtern gefunden." Am längsten sei der Dankes-Satz zu Beginn des CDU-Programms in Rheinland-Pfalz: Er besteht aus 116 Wörtern.
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Mit der formalen Unverständlichkeit verschenken die Parteien eine Kommunikationschance bei den Bürgerinnen und Bürgern, stellt Prof. Dr. Brettschneider fest. „Obwohl nur sehr wenige Menschen die Wahlprogramme komplett und intensiv durchlesen, sollen Wahlprogramme eigentlich dazu dienen, Wählerinnen und Wähler zu gewinnen oder zu halten." Aus den Programmen leiten sich außerdem andere Kommunikationsmittel ab, die für eine Wahl wichtig sind: Wahlplakate, Homepage und Broschüren. „Selbst, wenn die Wähler nicht das gesamte Programm lesen, so schauen sich einige von ihnen doch zumindest die Passagen an, die sich auf Themen beziehen, die ihnen wichtig sind", sagt Prof. Dr. Brettschneider.
Neben der Funktion, Wählerinnen und Wähler zu halten oder neue zu gewinnen, sind die Programme auch innerhalb der Partei von Bedeutung, betont der Kommunikationsexperte. „Während der Arbeit am Programm klären die Mitglieder innerparteiliche Positionen und bündeln verschiedene Interessen. Der Parteiführung dient das Programm nach der Wahl als Grundlage für Koalitionsverhandlungen oder für die Arbeit in der Opposition. Entgegen landläufigen Behauptungen halten sich Parteien nach den Wahlen auch häufig an ihre Programm-Aussagen."
Wie Parteimitglieder Wahlprogramme wahrnehmen, ist bislang kaum erforscht. Bei einer Online-Umfrage der Universität Hohenheim im Jahr 2010 gaben 828 Parteimitglieder an, vor allem die Kurzversion des Wahlprogramms für ein wichtiges Wahlwerbemittel zu halten. Es sei nützlicher, besser gestaltet, überzeugender, interessanter und verständlicher als die Langfassung. Lediglich die Mitglieder der Grünen stufen die Langversion als sehr wichtig ein.
„Fast 50 Prozent der befragten Parteimitglieder gaben an, die Kurzversion ihres Wahlprogramms vollständig gelesen zu haben", so Prof. Dr. Brettschneider. „Von der Langversion behaupten das nur 16 Prozent."
Parteiübergreifend werden die Kurzfassungen als ein wirksames Wahlwerbemittel gesehen: Sie erfüllen aus Sicht der Parteimitglieder am stärksten die Funktion, die Wähler von der Wahl der jeweiligen Partei zu überzeugen. Diese Funktion wird den Langfassungen am wenigsten zugesprochen. „Die Langfassungen dagegen gelten unter den Mitgliedern als Instrument, um dem Wahlkampf eine Richtung zu geben und um in eventuellen Koalitionsverhandlungen eine Richtlinie zu haben", erklärt Prof. Dr. Brettschneider. „Eine Funktion, die wiederum den Kurzfassungen am wenigsten zugesprochen wird. Es gibt also eine klare Arbeitsteilung zwischen den Lang- und den Kurzfassungen."
Prof. Dr. Brettschneider betont jedoch: „Die von uns gemessene formale Verständlichkeit ist natürlich nicht das einzige Kriterium, von dem die Güte eines Wahlprogramms abhängt. Deutlich wichtiger ist der Inhalt. Unfug wird nicht dadurch richtig, dass er formal verständlich formuliert ist. Und unverständliche Formulierungen bedeuten nicht, dass der Inhalt falsch ist. Formale Unverständlichkeit stellt aber eine Hürde für das Verständnis der Inhalte dar."
HINTERGRUND: Hohenheimer Verständlichkeits-Analysen
Das Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Kommunikationstheorie, an der Universität Hohenheim untersucht seit 15 Jahren die formale Verständlichkeit zahlreicher Texte: Wahlprogramme, Medienberichterstattung, Kunden-Kommunikation von Unternehmen, Verwaltungs- und Regierungskommunikation, Vorstandsreden von DAX-Unternehmen.
Möglich werden diese Analysen durch die Verständlichkeits-Software „TextLab". Die Software wurde von der H&H CommunicationLab GmbH in Ulm und von der Universität Hohenheim entwickelt. Sie berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z. B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze). Daraus ergibt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex". Er bildet die Verständlichkeit von Texten auf einer Skala von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich) ab. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Hörfunk-Nachrichten kommen im Schnitt auf 16,4 Punkte, Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt oder der Süddeutschen Zeitung auf Werte zwischen 11 und 14.
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